Spiritual Care in Sozialer Arbeit und Beratung
Seitdem die WHO (Weltgesundheitsorganisation) Spiritualität als 4. Säule der Gesundheit anerkennt, ist das vormals bio-psycho-soziale Modell um die Dimension der spirituellen Gesundheit erweitert worden. Im Zuge dessen hat ein erweitertes Verständnis von Spiritualität in Sozialer Arbeit, Pädagogik, aber auch Psychotherapie und anderen Beratungsformate Einzug gehalten. Der “spiritual turn” reagiert damit nicht zuletzt auf ein emanzipierteres Verständnis von Spiritualität. Ursprünglich in den klassisch religionsorientierten Beratungsformaten wie Seelsorge beheimatet, steht heute stärker ein individualisiertes Verständnis von Spiritualität im Vordergrund und persönliche spirituelle Ressourcen spielen bei Lebensbewältigung eine größere Rolle auch im “säkularen” Beratungssetting.
Vor allem in existenziellen Lebenssituationen, in Krisen und Trauer wird die spirituelle Dimension als hilfreich erlebt, aber auch im ganz normalen Alltag ist ein Shift zum Blick nach innen, zu den innewohnenden spirituellen Ressourcen sowie zur Transzendenz i.S. einer über das Individuum hinausreichenden Wirklichkeit zu erkennen. Die Psychotherapie hat darauf reagiert und distanziert sich zunehmend in ihrer psychoanalytischen Ausrichtung von kritischer Pathologisierungen aus Freudschen Tagen. Die dritte Welle der Verhaltenstherapie brachte eine Integration von Achtsamkeit, Meditation und Kontemplation mit sich. Und auch in sozialer Arbeit, in Pädagogik und Coaching werden spirituelle Elemente als wertvolle Ressourcen wertgeschätzt und integriert.
Was bedeutet das für die Entwicklung der professionellen Rolle und wie kann Supervision Beratern helfen, einen eigenen, reflektierten Bezug zur persönlichen Spiritualität zu gewinnen?
Aus der Religionspädagogik kennt man Glaubensentwicklungsstufen und ‑konzepte. Grundlagenforschung hat hier z.B. James W. Fowler betrieben, der seine Theorie zur Glaubensentwicklung 1981 vorlegte. Ähnlich wie Kohlberg, Piaget und Erikson dies für die Entwicklung des moralischen Urteis und der Logik taten, identifizierte Fowler sechs Entwicklungsstufen:
- Intuitiv-projektiver Glaube (frühe Kindheit)
- Mythisch-wörtlicher Glaube (Grundschulzeit)
- Synthetisch-konventioneller Glaube (frühe Adoleszenz)
- Individuierend-reflektierender Glaube (späte Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter)
- Verbindender Glaube
- Universalisierender Glaube
Vor allem der verbindende und universalisierende Glaube wird inzwischen aktiv auch neurobiologisch erforscht durch Gehirnstrommessungen bei Nonnen und Mönchen und steht für die Verbundenheit zwischen Menschen untereinander, aber auch Menschen mit der Welt, dem Universum und im weitesten Sinne Transzendenzerfahrung. (Ausführlicher Artikel zu Fowler unter: Download – Supervision, Coaching, Training (manuelaherden.com), bzw. Religioese-Sozialisation-und-religioese-Entwicklung.pdf (manuelaherden.com)
Für die professionelle Rolle als BeraterIn, PsychotherapeutIn, SozialarbeiterIn u.ä. sind häufig v.a. eigene biografische Bedingungen relevant. Wie wurde man z.B. in der Kindheit an Spiritualität herangeführt? War es eine Ressource im Elternhaus, eine positiv belegte Kompetenz oder wurde es als eine dysfunktionale Erscheinung bewertet? Gab es befreiende Dogmen und Glaubenssätze oder wurde ein rigoroses Religionsverständnis vermittelt, ähnlich dem vom Psychoanalytiker Tilman Moser so trefflich beschriebenen Gottesbildes in “Die Gottesvergiftung”? Oder gab es gar keine Auseinandersetzung mit der Thematik? Frei nach dem Motto: Mein Kind soll sich unvoreingenommen für einen eigenen Weg entscheiden können, wenn es so weit ist. Was allerdings das Problem aufwirft, keine Sprache für spirituelles Erleben auszubilden (vgl. Friedrich Schweitzer: “Lebensgeschichte und Religion”).
In meiner eigenen Beratungstätigkeit stelle ich oft eine Verschwommenheit bei diesen Fragen fest. Professionellen Helfern, die in anderen Themen exzellent sprachfähig sind und sich durch Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung gut verorten können, mangelt es an Methoden, Modellen und ganz praktischen Kriterien, wenn es um die eigene spirituelle Ausrichtung geht. Teilweise wurden auch eigene, unangenehme Religionserfahrungen mit dem Mantel des Schweigens verhüllt und mit einem erleichterten Seufzen wird der ganze “Kinderkram” beiseite gelegt. Je nach Intensität der unbewussten Introjekte kann das allerdings auch nach hinten losgehen und im Unterbewusstsein ein munteres Eigenleben entfalten.
Hilfreich ist es, ganz klassisch mit Glaubenssätzen, inneren Überzeugungen Bildarbeit und Lebenslinien zu arbeiten. Oft ergänzt durch Embodiment, da spirituelle Erlebnisse sich gut in Körperarbeit einbetten oder erfühlen lassen. Meditative Praxis und Kontemplation hilft, Verschüttetes behutsam wieder “aufsteigen” und bewusst werden zu lassen, um es einer Lösung oder Nutzung zuzuführen. Vor allem bei einschränkenden oder gar verletzenden oder missbräuchlichen Erfahrungen ist es i.d.R. hilfreich, den professionellen Blick von außen in Form von Supervision, Seelsorge oder – bei Krankheitssymptomen Psychotherapie – in Anspruch zu nehmen.
Einen Einstieg und unverfänglichen Zugang zur eigenen spirituellen Biographie liefert das Glaubensentwicklungsinterview (FDI: Faith development interview), das an der Uni Bielefeld entwickelt wurde: Faith Development Research – Universität Bielefeld (uni-bielefeld.de)
Abweichend von der fowlerschen Stufenfolge werden die unterschiedlichen spirituellen Ausrichtungen als “Glaubensstile” bezeichnet und mittels eines strukturierten Interviews in 6 Dimensionen erfragt:
- Perspektivenübernahme
- sozialer Horizont
- Moral
- Verortung von Autorität
- Formen des Weltzusammenhangs
- Symbole und ihre Funktionen
Bei Interesse an Selbstreflexion zum Eigengebrauch oder Weiterentwicklung der professionellen Rolle und Abgrenzungsfragen gerne Email an info@manuelaherden.com.